Es wuchs und breitete sich aus

Eine Bildkritik

Ministrantentag in Neuzelle am 15.09.2012 (aus Urheberrechtsgründen Bild nur →verlinkt)


Kann man einen Ministrantentag besser überschreiben? Es wird mit einer regen Teilnahme katholischer Leistungsträger gerechnet, weshalb die Veranstalter Sorge haben, für jeden Erwachsenen auch einen Ministranten zur Verfügung stellen zu können.

Bei Luther findet sich in der Apostelgeschichte 12,24: “Und das Wort Gottes wuchs und breitete sich aus.” Im selben Opus heisst es weiter: “Aber das Wort ward Fleisch” (Joh 1,14). Ein spitzfindiger Neuzeller Organisator folgte seiner Assoziation/Intuition und wandelte entsprechend: “Das Fleisch wuchs und breitete sich aus.” So eindeutig präsentiert sich die katholosche Kirche sonst nicht, weshalb die Formel mit einer Retransgression wieder ins Unbewusste zurückgeführt wird. Das “Es” ist nun Platzhalter und Bedeutungsträger des Unbewussten und ganz im Sinne Freuds der Ausdruck eines polymorphen Triebpotentials (Dank an Werner Stangl für die treffende Formulierung). Also: “Es wuchs und breitete sich aus!”

Dem geübten Exegeten erschließt sich das Versprechen bereits aus dem Motto der Veranstaltung. Für den weniger Kundigen wird das Motto in ein Bildprogramm übersetzt. Als endozentrisches Determinativkompositum sollte “Ministranten Tag” eigentlich zusammengeschrieben werden. Dabei würde das Signalwort “Ministranten” aufgrund seiner hypotaktischen Stellung zu “Tag” untergehen. Als typographisch größtes Wort auf dem Plakat soll es durch keine Zusammensetzung gestört werden und seine Funktion als eyecatcher erfüllen. Diese Funktion wird graphisch durch die trapezoidal zulaufende Box um die Wortgruppe unterstützt, die das Auge immer wieder zu den Ministranten führt. Spätestens hier ist klar, der Ministrant steht im Zentrum des Bemühens.

Darunter im Focus eines männlichen Voyeurs die Allegorie des Begehrens. Der Mann hält ein Binokular, das perspektivisch verzerrt sein Gesicht verdeckt und ihn so in der Anonymität belässt. Der Blick von außen in die Linsen sollte dunkle Leere oder die Augen dahinter zeigen. Aber entgegen aller Physik und durch raffinierte Tricktechnik sieht man in beiden Strahlengängen durch die Augen hindurch direkt in die Gedanken. Links ein Phallusmotiv im Busch. Rechts, aufblickend, das Objekt der Begierde, noch erwartungsvoll mit seinen Gespielen vereint.

Während in der Bildunterschrift der Beginn mit Zeit und Ort beworben wird, so ist vom Ende nur die ungefähre Zeit geplant. An welchem Ort sich jeder Einzelne befinden wird, ergibt sich und wird persönlichen Neigungen überlassen. Neuzelle bietet kleinteilige Architektur mit einem geometrisch gewinkelten Park eingebettet in eine Landschaft aus sanften Hügeln und Teichen.

Passend zum Plakat pariert das (ev.) Gesangsbuch mit einem Lied zur Einstimmung:

Nun aufwärts froh den Blick gewandt
und vorwärts fest den Schritt!
Wir gehn an unsers Meisters Hand,
und unser Herr geht mit.

Vergesset, was dahinten liegt
und euern Weg beschwert;
was ewig euer Herz vergnügt,
ist wohl des Opfers wert.

Und was euch noch gefangen hält,
o werft es von euch ab!
Begraben sei die ganze Welt
für euch in Christi Grab.

So steigt ihr frei mit ihm hinan
zu lichten Himmelshöhn.
Er uns vorauf, er bricht uns Bahn –
wer will ihm widerstehn?

Drum aufwärts froh den Blick gewandt
und vorwärts fest den Schritt!
Wir gehn an unsers Meisters Hand,
und unser Herr geht mit.

(August Hermann Franke – 1889)