Gebt Adlershof eine Chance!

(in UnAufgefordert Nr. 121, Juni 2001)

Adlershof ist nicht urban, sondern provinziell. Der Geruch des kleinbürgerlichen Siechtums hängt nicht nur in der Umgebung des Wissenschaftssoziotops, sondern haftet bereits an allen neu errichteten Gebäuden. Sie riechen nicht nach Weltbürger, wissenschaftlichen Internationalismus und erwecken nicht den Anschein, als wenn von dort ein kulturelles Erbe zu erwarten sei. Vielmehr erscheinen sie in ihrer Dimension, Ausstattung und Lage als die Phantasie eines Kleingeistes, der nicht Horizont genug hatte, um die Erfordernisse einer modernen Wissensschmiede zu erkennen.

Verstrickungen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften bilden die Grundlage für eine Überführung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in gesellschaftlich relevante Anwendungen. In unserer Mediengesellschaft kann keine naturwissenschaftliche These ohne mediale Präsenz bestehen, keine technische Neuerung ohne rechtliche Absicherung oder Vermarktung, ohne die Abschätzung sozialer Folgen, ohne Design.

In einer hochgradig ausdifferenzierten Wirtschaft werden fachliche Exoten zu begehrten Subjekten, die mit ihrem vielseitigen Verständnis Theorie in Relevanz umsetzen. Damit bei Humboldts nach dem Umzug nach Adlershof wieder Exoten für fachliche Interaktionen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften entstehen können, ist es längst an der Zeit, radikal umzudenken. Und dieses Umdenken betrifft nicht nur Teilbereiche des Universitätsalltags, sondern muß wie ein Sturm über die gesamte inneruniversitäre Landschaft hinwegbrausen und alle Vorurteile und Gewohnheiten hinwegfegen, um Platz für neue Modelle und Strukturen zu schaffen.

Grundlage für eine Zusammenarbeit ist ein Getrennt-Sein. Es bleibt Illusion, daß die naturwissenschaftliche Tradition der Humboldt-Universität in Adlershof fortgesetzt werden kann. Tradition heißt Verhaftet-Sein, Fortsetzung und Bewußtheit der eigenen Geschichte. Adlershof ist nicht der Ort der Geschichte der Humboldt-Universität. Es gibt dort keine Zeugnisse, die einem bewußt machen, Teil der Geschichte dieser Institution zu sein. Der Campus Adlershof ist eine völlig neue Institution. Eine virtuelle Überlieferung kann einem nicht das Gefühl vermitteln, Teil einer Folge, einer Historie zu sein. Tradition muß man sehen, anfassen und spüren. Die Naturwissenschaften können in Adlershof keine Tradition fortsetzen, aber sie haben die Chance, eine neue Tradition zu begründen. Wenn sie sich dabei an Ideale und Gebräuche ihrer Mutteruniversität erinnern, spiegelt dies einen Prozeß des Lernens und der Reflexion wieder.

Ein solcher Bruch setzt eine Emanzipation vom Stammhaus voraus. Realistisch betrachtet, können die naturwissenschaftlichen Fakultäten von den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften in Zukunft nur Blockade und Stagnation erwarten. Die Erfahrungen der letzten Jahre sollten genügen, um auch den letzten Zweifeler davon zu überzeugen, daß aus dieser Richtung Hilfe, Solidarität und Unterstützung, pragmatische Lösung von Problemen oder uneigennützige Anregungen nicht zu erhoffen sind. Ein Festklammern an bisherigen Strukturen wird eine Konsolidierung und Entwicklung des Campus Adlershof retardieren. Das betrifft vor allem Verwaltungsstrukturen, aber ebenso die Ressourcenverteilung und die Organisation der Lehre.

Die beiden naturwissenschaftlichen Fakultäten sollten schleunigst ein einheitliches, geschlossenes Auftreten hervorbringen. Dies ist sicher am schnellsten durch ein Zusammenlegen der beiden Fakultäten zu einer Fakultät zu erreichen. Diese Fakultät kann effektiver arbeiten, wenn ihr eine straffe und vor allem anwesende Verwaltung zur Seite steht. Eine Verwaltungsautonomie in einigen Verwaltungseinheiten kann spezifisch für diese Fakultät anfallende Aufgaben ohne den bemessenden, abwägenden Balast einer gesamtuniversitären Sachbearbeitung erleichtern und beschleunigen. Aber vor allem sollte Autonomie in der Ressourcenverteilung erreicht werden. Im Vordergrund steht dabei natürlich der finanzielle Haushalt der Naturwissenschaften, aber ebenso die Verfügung über Räume, Personal oder Technik. Dabei geht es nicht nur um Planungssicherheit, sondern um sachkundige Verteilung der vorhandenen Mittel. Eine solche Sachkunde wird sich niemand mit Verwaltungssitz in Berlin Mitte zulegen. Vielmehr laufen die Naturwissenschaftler Gefahr, planerischen Unsinnigkeiten, Unbedachtheiten oder einfacher Unwissenheit zum Opfer zu fallen.

Um Fachkombinationen über beide Standorte studierbar zu gestalten, ist es vielleicht Zeit, sich von jahrhundertealten Studienmodellen zu verabschieden. Hauptproblem eines übergreifenden Studiums ist die Unvereinbarkeit einer effektiven zeitlichen Koordination mit der herkömmlichen Studienorganisation. Die Lehrveranstaltungen müssen zeitlich und räumlich flexibler werden. Als erstes sollte man sich von der Semesteraufteilung und dem Wochenstundenplan verabschieden. Blockbildung von Veranstaltungen können in viel größerem Maßstab durchgeführt werden, als bisher geschehen. Bei vielen wissenschaftlichen Gegenständen ist der Lerneffekt durch zusammenhängendes Studium ungemein größer als die wochenweise Verabreichung von Wissenshäppchen. Bestimmte Zeiten des Kalenderjahres für Blockveranstaltungen könnten reserviert werden. Korrespondierende Veranstaltungen können zusammen in einem Block abgehandelt werden, zum Beispiel Kombinationen von natur- und geisteswissenschaftlichen Veranstaltungen, wo der gesamte Block komplett in Adlershof oder in Mitte durchgeführt wird. Ebenso ist es möglich, für Vorlesungs- oder Seminarreihen, in deren Natur der Wochenrhythmus liegt, gesamtuniversitär bestimmte Wochentage zu reservieren und die verbleibenen Tage für Blockveranstaltungen zu nutzen. Diese Anregungen für eine Neuordnung der Lehre sollen verdeutlichen, daß wir unseren Spielraum diesbezüglich noch gar nicht betreten haben, geschweige denn ausgereizt.

Die geographische Entfernung zwischen den beiden Standorten ist so immens und in absehbarer Zeit nicht zu verkürzen, weder durch schnellere Verkehrsmittel oder durch Telekommunikation, daß ein Pendeln von vornherein ausgeschlossen werden muß und in keiner sinnvollen Planung auftauchen darf. Entweder zum einen oder anderen Standort einmal am Tag hinfahren und wieder weg muß für Lehrende genauso wie für Studierende gelten. Praktisch macht es keinen Unterschied, ob sich die Naturwissenschaften in Adlershof befinden oder irgendwo in Brandenburg. Die Ankopplung an den Universitätsteil in Mitte ist genauso aufwendig und unaufwendig, als würde die Technische Universität Cottbus der Humboldt-Universität zugeordnet.

Vergleicht man die desolate, universitäre Gedankenlage zum Umzug und seinen Folgen mit dem Baufortschritt und dem Zeitplan für die Übersiedlung, sollten die Naturwissenschaften aus ihrem politisch verabreichten Barbituralschlaf erwachen und das Zepter für die Organisation der Zeit-Danach eiligst selbst in die Hand nehmen, bevor es jemand anderes widerwillig machen muß und ungenügend machen wird.